Heinz Schön, Publizist
(u. a. zur „Gustloff“-Katastrophe) |
Im September 1944, nach den vernichtenden Angriffen britischer Bomberverbände auf Königsberg, begann die Evakuierung von Müttern mit Kindern „ins Reich“ mit der Deutschen Reichsbahn. Fortgesetzt wurde diese Evakuierungswelle nach der Herbstoffensive der Roten Armee, die zur teilweisen Besetzung eines Teilbereiches des ostpreußischen Grenzgebietes führte. Als am 13. Januar 1945 die sowjetische Winteroffensive gegen Ostpreußen begann, setzte auch gleichzeitig die Massenflucht der Zivilbevölkerung ein, und das trotz des Fluchtverbotes der Gauleitung der NSDAP. Es folgte ein Ansturm auf Bahnhöfe und Züge, die nach Westen fuhren, selbst Güterzüge wurden angehalten und gestürmt. „Nur weg, bevor die Russen kommen“, hörte man auf den Bahnsteigen, auf denen Hunderte auf den Abtransport warteten. Es waren zumeist Mütter mit Kindern und ältere Ostpreußen, welche bei dem winterlichen Wetter, bei Eis, Schnee und grimmiger Kälte, die Flucht über Land oder mit Schiffen von Königsberg und Pillau-Neutief über die Ostsee scheuten. Manchmal dauerte es viele Stunden, bis ein Zug eintraf, und oft war es nur ein Güterzug, der die Menschen nach Westen beförderte. Eile war geboten, denn jeder Zug, der einen Bahnhof in Ostpreußen in Richtung Reich verließ, konnte der letzte sein.
Dieser Zeitpunkt traf ein, als sowjetische Truppen in der letzten Januarwoche 1945 Elbing erreichten, damit den Fluchtweg für Trecks und Eisenbahnzüge sperrten und der Ostpreußenkessel entstand. Eine Flucht aus Ostpreußen war nur noch über das zugefrorene Frische Haff nach Pillau-Neutief und von dort mit einem Schiff über die Ostsee möglich oder zu Fuß über die Nehrungstraße des Frischen Haffs in die Danziger Bucht. Wer das Glück gehabt hatte, vorher noch einen Eisenbahnzug zu erreichen, und dies waren viele Tausend Ostpreußen, war trotzdem Strapazen und Gefahren ausgesetzt, denn es ging wegen zerstörter Brücken und durch Bombenabwürfe beschädigter Gleise nur mühsam vorwärts und russische Flugzeuge scheuten sich nicht, Flüchtlingszüge mit Bordwaffen zu beschießen und zu bombardieren.
Kurz nach der 1944/45 erfolgten Flucht Hunderttausender Ostpreußen aus ihrer angestammten Heimat begann bereits im zweiten Halbjahr 1945 die Vertreibung der in Ostpreußen verbliebenen Deutschen – ein weiteres Kapitel der noch nicht vollständig aufgearbeiteten ostpreußischen Flucht- und Vertreibungsgeschichte. Doch der Anfang ist gemacht.
Der Ostpreuße Heinz Timmreck berichtet in diesem Buch über seine Flucht aus Ostpreußen mit der Eisenbahn, die in einem Unglück endete. Er unternimmt damit den lobenswerten Versuch, die Dokumentation über „Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen 1944/48“ mit dem Kapitel „Flucht mit der Bahn aus Ostpreußen“ zu vervollständigen, um damit der Jahrhundertflucht aus Ostpreußen und der Vertreibung der letzten Deutschen aus ihrer Heimat eine noch größere zeitgeschichtliche Darstellung zu verschaffen.
Wünschenswert ist nicht nur, das dieses Buch viele Leser findet, sondern dass sich bei Heinz Timmreck in Bad Salzuflen weitere Zeitzeugen melden, die 1944/45 mit der Eisenbahn aus Ostpreußen geflohen sind oder in den Nachkriegsjahren aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Bad Salzuflen, Mai 2011