Buchwalde und Osterode von Januar bis Oktober 1945

 

Mit 8 Jahren erlebt –

mit 63 Jahren aus der Erinnerung aufgeschrieben

Heinz Timmreck

Die Flucht

Es war ein kalter, sonniger ostpreußischer Wintertag, der 20. oder 21. Januar 1945. Mein 14jähriger Bruder Diethelm sollte im Frühjahr konfirmiert werden und benötigte hierzu einen Anzug. Er fuhr vormittags mit dem Fahrrad nach Osterode, um bei meinem Onkel, dem Schneidermeister Otto Timmreck, den Anzug anzuprobieren. Aber er kam nicht weit, da die Straßen teilweise gesperrt waren und sich bereits viele Menschen und Trecks auf der Flucht befanden. Seine aufgeregten Worte: „Mutti, Mutti, wir müssen flüchten, die Straßen sind voller flüchtender Menschen…“. Daraufhin zogen wir  warme Sachen an, meine Mutter nahm eine bereits vorsorglich mit allen wichtigen Papieren und einigen Wertsachen gepackte Aktentasche und dann gingen wir zu Fuß eilig über den Dorfplatz in die Stadt. An der Volksschule in Buchwalde trafen wir Walter Fritz aus Deutsch-Eylau, einen Bruder meiner Mutter, der sich als Soldat mit seiner Einheit auf dem Rückzug befand. Erstaunt, uns hier noch anzutreffen, rief er uns aufgeregt zu: „Frieda, was macht ihr denn noch hier. Wir setzen uns ab, der Russe ist nur noch einige Kilometer hinter uns“. Viele, viele Menschen mit Handgepäck, Rucksäcken, Schlitten und Handwagen bewegten sich in Richtung Bahnhof, dazwischen Trecks und Militär. Uniformierte versuchten die strömenden Massen zu lenken. Am Bahnhof herrschte ein heilloses Durcheinander, viele Menschen befanden sich in Panik. Wir hatten großes Glück, denn meine Mutter bekam mit uns 2 Kindern in einem auf dem Bahnhof unter Dampf stehenden Güterzug noch etwas Platz. Alle im Güterwagen saßen dicht gedrängt auf dem Waggonboden. Babys und Kinder weinten, alte Frauen beteten laut. Nach Einbruch der Dunkelheit setzte sich der Zug in Bewegung Richtung Elbing über Dirschau in den Westen. 

Plötzlich wurde unser Waggon mit einem großen Ruck durch geschüttelt und der Zug stand.  Wir hörten ein ohrenbetäubendes Krachen und viele entsetzliche Schreie. Unser Zug war wegen der nahen Front nachts ohne Beleuchtung gefahren und auf einem bereits verunglückten Lazarettzug geprallt. Wir hatten nochmals sehr großes Glück, denn die beiden letzten Wagen blieben unbeschädigt und wir hatten im zweitletzten Wagen auf dem Boden gesessen. Beim Aussteigen sahen wir, wie Männer mit Taschenlampen in die Gegenrichtung leuchteten und damit kurz vor unserem Zug eine einzeln fahrende Lokomotive zum Halten brachten. Nur dem Mut dieser Menschen ist es zu verdanken, dass nicht auch diese Lok auf unseren Zug auffuhr und weiteres Unheil verursachte. Die Szenen, die sich an den Eisenbahnschienen und in den verschiedenen Wagen abspielten, sind kaum zu beschreiben. Die Eisenbahnwagen waren aus den Schienen gesprungen und hatten sich verkeilt. Im hohen Schnee ging es an schreienden Menschen und verwundeten Soldaten vorbei zum nächsten Bahnhof Grünhagen. In der Ferne hörten wir das Grummeln und sahen auch das Aufleuchten von Artilleriefeuer. Hier warteten wir in eisiger Kälte und dunkler Nacht auf dem Bahnsteig auf einen Ersatzzug aus Elbing. Zwischen uns standen auch versprengte und sich absetzende deutsche Soldaten. Im Morgengrauen erschienen auf unserer Seite des Bahnhofs Panzer. Zunächst glaubten wir, es seien deutsche, aber bei deren Näherkommen ging ein Aufschrei durch die Menge, denn es waren russische Panzer, die nunmehr in die wartende Menge schossen. Meine Mutter packte mich sofort fest an ihre Hand und lief mit mir, meinem Bruder und vielen anderen Menschen über die Gleise, dann über mit hohem Schnee bedeckte Felder und Koppeln, um einen in der Ferne befindlichen Wald zu erreichen. Wir liefen um unser Leben.   Hierbei hat sich meine Mutter noch am Stacheldraht einer Koppel verletzt und ihre Aktentasche mit allen Papieren weggeworfen. Endlich erreichten wir unbeschadet den Wald. Aber in der Aufregung, dem Gehetze und allgemeinen Durcheinander war in der Menschenmenge mein Bruder verloren gegangen. Alle Fragen meiner aufgeregten Mutter an vorbeikommende Menschen nach meinem vermissten Bruder halfen nichts. Schließlich trafen wir Leute, die meinen Bruder mit einer kleinen Gruppe gesehen hatten. Nun waren wir etwas beruhigt, denn mein Bruder hatte den Lauf in den Wald lebend überstanden. Schließlich schloss sich meine Mutter einem jungen Soldaten an, der mit seiner Frau und ihrem Baby ebenfalls auf der Flucht war. Wir mieden die Hauptstraßen, der hohe Schnee machte uns auf den Nebenwegen sehr zu schaffen. Auf einem Bauernhof, der schon mit Flüchtlingen belegt war, fanden wir notdürftige Unterkunft. Die Frauen rieben ihre Gesichter mit Asche ein und machten sich alt. Der junge Soldat zog Zivilsachen an. So warteten wir verängstigt auf die ersten Russen, die dann auch bald kamen und sich trotz ihres hässlichen Aussehens einige Frauen holten. „Frau komm, Hitler kapuuut“, hörte man immer wieder. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, warum, bekam das aber dann später  zu sehen. Damit war unsere Flucht vor der russischen Armee zunächst einmal beendet.

Tags darauf ging es mit dem jungen Ehepaar zurück in Richtung Osterode. Unterwegs stoppte uns eine russische Militärstreife, die den jungen Vater sofort festnahm. Alles Bitten; Schreien und Flehen half nichts. Unbarmherzig nahmen die Russen den Mann mit ihren Rufen „Wojna, Wojna“ mit. Gegen Abend kamen wir in Osterode an. Dort hatten die Russen die zurückgebliebenen und zurückflutenden  Menschen in einigen Straßen zusammengetrieben. Wir wurden in einem Haus in der Schillerstraße untergebracht, welches bereits voll von Menschen war. Meine Mutter fand in einem Zimmer auf dem Fußboden noch einen kleinen Platz, während ich auf dem Schreibtisch liegen konnte. Das Zimmer war durch die vielen brennenden Häuser, insbesondere aber durch den Brand der Landkirche hell erleuchtet. Auch hier wieder die gleiche Zeremonie wie auf dem Bauernhof. Andauernd kamen Russen und holten sich Frauen.

Buchwalde

In einem Hinterhaus neben dem Kloster in der Schillerstraße von Osterode fanden wir nebst anderen Müttern mit Kindern zunächst eine Unterkunft. Sobald es möglich war, begaben wir uns Tage darauf nach Buchwalde. Dort hörten wir, dass mein Bruder uns bereits suchte. Wir waren erleichtert und froh über diese Nachricht. Es dauerte dann auch nur ein oder zwei Tage, bis wir wieder zusammen waren. In Buchwalde war das Haus von Alfred Duscha, in dem wir bis zur Flucht wohnten, abgebrannt. Es standen nur noch die Mauern. Oben hatte sich die Putzmaschine meines Vaters, die in der Dachkammer abgestellt war, (mein Vater war Schuhmacher) an der Außenwand verfangen. Im Flur unten war ein Fass mit Salzheringen durch den beißenden Qualm und Feuer angebrannt. Die Heringe sahen jetzt aus wie Bücklinge. Die Heringstonne stammte sicherlich von einem bei der Marine befindlichen Sohn der Familie Wesner, die ebenfalls in diesem Haus zur Miete wohnte. Auf dem Zehmensee waren in einem Boot  Russen, die Handgranaten warfen und die an die Oberfläche kommenden toten Fische mit einem Käscher einfingen. 

Osterode

Meine Mutter und mein Bruder wurden von den Russen zu Zwangsarbeiten herangezogen. Diese bestand mit Einsetzen des Frühlings u.a. mit dem Aufsammeln und Vergraben von Leichen und toten Tieren. In die vorhandenen ausgehobenen Schützengräben kamen zuerst die toten deutschen Soldaten und dann die verendeten Pferde. Meine Mutter hat heimlich Erkennungsmarken an sich genommen, die ihr aber wieder abgenommen wurden. Ich hatte inzwischen viel Schreckliches erlebt und gesehen, aber das Grauenvollste waren drei tote deutsche Soldaten mit ausgestochenen Augen und einem Bajonett in der Brust auf der Promenade des Drewenzsee´s, die wir Kinder beim Erforschen unserer Umgebung fanden.

Gefürchtet war die GPU, die nicht dem Militärkommandanten unterstand. Eines Tages, wurden alle arbeitsfähigen Frauen -auch meine Mutter- von der GPU festgenommen und in ein größeres Haus in der Nähe des Drewenzsee`s gebracht. Die Frauen sollten nach Sibirien verschleppt werden. Dieses Wissen gab glücklicherweise der russische Kommandant seiner deutschen Geliebten weiter, worauf eine Aktion zur Rettung der Frauen gestartet wurde. Wir Kinder wurden über die drohende Verschleppung und unser Verhalten instruiert und mit einem Leiterwagen zu dem Haus gefahren. Hierzu gehörte auch, dass Geschwister sich verteilt auf Frauen, die keine Mütter waren, stürzen sollten. Wir Kinder weinten und bangten um unsere Mütter. Vor dem Haus fingen wir alle an laut nach unseren Müttern zu schreien. Die Frauen hörten uns und begannen ebenfalls zu schreien und gegen die Haustür von innen zu drücken. Die vor der Haustür stehenden zwei russischen Posten waren durch das gemeinsame Schreien der Frauen und uns Kindern dermaßen verunsichert, dass diese nichts unternahmen als plötzlich die Haustür aufsprang und die Frauen heraus drängten, und wir Kinder uns auf die Frauen stürzten und zusammen alle schnell fortliefen. Durch die beherzte Aktion sind die Frauen der Verschleppung entgangen. Wem wir das Leben der Mütter und Frauen verdanken, weiß ich nicht. Der russische Kommandant dürfte hieran jedoch einen großen Anteil haben.

Die Taten der Kampftruppen und die ersten Maßnahmen der folgenden Besatzer hatten wir überstanden. Nun aber musste Nahrung beschafft werden und die ständige Ungewissheit über unser weiteres Schicksal und die Zukunft waren immer wieder Themen der Erwachsenen. So gab es noch keine Zivilverwaltung, keine Schule und keine Geschäfte zum Einkauf von Nahrungsmitteln sowie außer Gerüchten keine Informationen über den weiteren Verlauf des Krieges und der Weltpolitik. Wir konnten von unserem Fenster an mehreren Tagen beobachten, wie russische Militärkolonnen in mehreren Schüben aus Richtung Hohenstein nach Westen fuhren. Als auch dies vorüber war, hatten wir Kinder eine gewisse Narrenfreiheit. Wir durchstöberten mit kindlicher Neugier die leeren und unbewohnten Häuser, suchten nach Lebensmitteln und schauten uns die Verwüstungen an. Sicherlich haben die Russen bei ihrer Brandschatzung Benzin benutzt, wir fanden aber in einem Haus einen angekohlten Holztisch. Hier hatte man auf einem Holztisch Papier angezündet, damit sich das Feuer im ganzen Haus verbreiten konnte. Des weiteren beobachteten wir, wie Möbel und Maschinen auf offene Güterwagen geschafft wurden und dort tagelang ohne jeglichen Wetterschutz auf den Gleisen standen. In welchem Zustand mögen diese Sachen in der Sowjetunion wohl angekommen sein?

Schabernack

Trotz allem, was wir Kinder an unmenschlicher Rohheit und Gewalt gesehen, erlebt und gehört hatten, blieben wir Kinder. Wir – eine Gruppe von drei bis fünf Jungen – spielten und machten Schabernack. Hierzu möchte ich nur zwei Beispiele erzählen.

In unmittelbarer Nähe unserer Wohnung befand sich die katholische Kirche. Aus Neugier stiegen wir die Turmtreppen hinauf, wo sich die Glocken befanden und die wir durch übermütiges Ziehen an den Seilen zum Läuten brachten. Von der Lautstärke der Glocken haben wir uns so erschrocken, dass wir schnell  wieder die Treppen hinunter liefen. Aber da kam uns schon ein Priester entgegen, der uns streng ermahnte. Wir hörten nicht zu und gaben noch mehr Fersengeld. An der Kirchentür wartete bereits ein Empfangskomitee von deutschen katholischen Schwestern auf uns, die im Pfarrhaus beim Einmarsch der Russen zurückgeblieben waren. Todesmutig mit eingezogenem Kopf durchliefen wir diese Sperre und bezogen unter Schimpfen von den Nonnen von diesen einige Prügel, die wir sicher auch verdient hatten. 

Eines Tages beobachteten wir Kinder, wie auf einem  Hof in der Schillerstraße Bücher, Zeitschriften und andere Sachen mit Hakenkreuzen usw verbrannt wurden. Niemand war dort anwesend. Wir liefen dorthin und stocherten in dem Feuer. Plötzlich kam einer von den größeren Jungs auf die Idee, dort einige Gewehrpatronen hinein zu werfen. Nun muss man wissen, dass das Gelände von der Schillerstraße zur angrenzenden Blumenstraße abfällt und ein Haus (Hangbebauung) mit seinem Flachdach an das Grundstück  mit dem Feuer angrenzte. Einer warf einige Patronen in das Feuer und alle legten sich auf das Flachdach und warteten auf die Knallerei. Tatsächlich es knallte, aber kurz danach erschien eine Militärstreife in gebückter Haltung hinter einer Sichtschutz bietenden Hecke. Jetzt bekamen wir Angst und liefen über den Fluchtweg Blumenstraße fort.

Ausweisung

Im Mai/Juni tauchten die ersten Polen auf. Zivilisten und Soldaten mit ihren vierspitzigen Mützen. Die Russen waren plötzlich verschwunden. In der Nähe der Bahnschranken an der Bergstraße wurde ein Kiosk von einem Polen betrieben. Hier konnte man gegen Zloty einkaufen. Nun hieß es, entweder für Polen optieren oder raus aus Ostpreußen. Meine Mutter wollte dort auf keinem für Polen optieren, so dass wir im Oktober zwangsweise ausgewiesen wurden. Es durfte nur leichtes Handgepäck mitgenommen werden. Bevor wir in einen Zug steigen konnten, wurden wir auf Wertsachen, Schmuck, Geld usw. gründlich gefilzt. Es war ein überfüllter Güterzug, der uns nach Mecklenburg in die sowjetische Besatzungszone brachte. Der Zug wurde von Polen in Deutsch-Eylau geplündert. Die Polen schlugen mit Gewehrkolben gegen die Schiebetür unseres Wagens. Nur dem Mut größerer Jungs (u.a. auch mein Bruder), die an der Schiebetür standen und diese von innen festhielten, ist es zu verdanken, dass die Polen diese Tür nicht auf bekamen. Ich weiß nicht mehr wie lange die Fahrt dauerte, aber es waren wohl einige Tage. Der Zug blieb mehrmals auf offener Strecke stehen. Dann hatten wir wieder mal keine Lok usw. Das deutsche Geld  hatte in Osterode keinen Wert, aber je näher wir der Grenze kamen und auf Bahnhöfen hielten, konnten einige, die trotz strenger Kontrolle noch Reichsmark besaßen, hierfür von den Polen Brot kaufen, wobei es je näher wir der neuen Grenze kamen, billiger wurde. In Küstrin, dem neuen Grenzübergang blieben wir auch längere Zeit stehen, bis es weiter ging. Auf den Gleisen waren ebenfalls Züge mit russischen Soldaten. Zu diesen gingen wir Kinder betteln. Die Russen waren zu uns Kindern freundlich, griffen in ihren Brotbeutel und holten daraus dicke Scheiben von trockenem Brot, die wir mit Heißhunger aßen. Als es dann endlich weiter über die Oder nach Mecklenburg ging, hielt unser Zug an mehreren Bahnhöfen. Hier wurde jeweils ein Waggon abgekoppelt. Der eingesetzte Bürgermeister musste dann die Menschen in seiner Stadt und auf den Dörfern unterbringen. Alle Menschen aus unserem Waggon mussten in Sanitz bei Rostock aussteigen.  

Bad Salzuflen, im Februar 2001

 

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